Wie der Wels mit seinen Barteln im Dunkeln jagt: Der Sinnes-Code
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Das Geheimnis der sechs Antennen: Wie der Wels mit biologischem Radar im trüben Wasser jagt

Von Vitali Dalke, Angel-Enthusiast und Hobby-Biologe
Eine detaillierte Analyse der Jagdstrategie von Silurus glanis – Tastsinn, Geschmack und die Kunst der Wirbelspur-Verfolgung
1. Einleitung: Der Wels – Der Geisterjäger im Fluss
1.A. Die evolutionäre Herausforderung des Dunkels
Der Europäische Wels, Silurus glanis, ist der unangefochtene Gigant unter den reinen Süßwasserfischen Europas. Er ist ein dominierender Prädator (Räuber) und spielt eine entscheidende Rolle in seinen Ökosystemen, die von Flüssen bis zu schlammigen Seen reichen.
Der Wels ist ein Schattenjäger. Er ist überwiegend nachts und in der Dämmerung aktiv, eine Verhaltensweise, die ihn lichtscheu macht. Tagsüber versteckt er sich meistens regungslos in tiefen Gruben oder unter versunkenen Bäumen. Die eigentliche Jagd beginnt im Dunkeln. Diese nächtliche Aktivität zwingt den Wels, Beute aufzuspüren, wenn das Sehen unmöglich ist: bei völliger Dunkelheit oder in extrem trübem Wasser. Um diese Einschränkung zu überwinden, nutzt Silurus glanis ein hochkomplexes, multisensorisches System – er jagt mithilfe mehrerer Sinne gleichzeitig, die in seinen Barteln zusammenlaufen.
1.B. Die Bartel als evolutionäre Antwort
Die Barteln sind mehr als nur Merkmale; sie sind hochspezialisierte, flexible Antennen. Der Europäische Wels besitzt insgesamt sechs davon: zwei lange Barteln am Oberkiefer (Maxillar-Barteln) und vier kürzere Barteln am Unterkiefer (Mandibular-Barteln). Diese "Fühler" erweitern die sensorische Oberfläche des Kopfes dramatisch und ermöglichen das lückenlose Abtasten des Gewässergrundes (Substrat) und des umgebenden Wassers.
Die Barteln vereinen zwei lebenswichtige Sinne, die unabhängig vom Licht funktionieren:
1. Tastsinn (Mechanorezeption)
2. Geschmackssinn (Chemorezeption)
Durch die Kombination dieser Funktionen kann der Wels Nahrungsquellen selbst in völliger Finsternis lokalisieren, identifizieren und verfolgen.
2. Anatomie der Antennen: Sensorischer Aufbau der Barteln
2.A. Aufbau (Morphologie) und Sensorische Oberfläche
Die Barteln dienen als Hauptschnittstelle zur Umgebung. Sie sind ständig in Bewegung und tasten den Gewässergrund und die Wassersäule ab, um Signale aufzunehmen. Die Oberfläche der Barteln ist eine spezialisierte Hautschicht, die eine sehr hohe Dichte an Sinnesstrukturen beherbergt.
2.B. Die Dualität der Sensoren: Tasten trifft Geschmack
Die Barteln sind mit zwei Arten von Sensoren ausgestattet, die mechanische und chemische Reize gleichzeitig wahrnehmen:
1. Geschmackssensoren (Chemorezeptoren – Die externe Zunge): Die Barteln sind dicht mit Geschmacksknospen und anderen chemischen Sensoren besetzt. Diese Strukturen erlauben es dem Wels, gelöste chemische Substanzen – insbesondere Aminosäuren und Proteine, die von lebender Beute oder Aas freigesetzt werden – präzise zu erkennen.
Dies funktioniert wie eine Verlängerung der Zunge und ermöglicht die Identifikation potenzieller Nahrung über die chemischen Spuren im Wasser.
2. Tastsensoren (Mechanorezeptoren): Für das Erfassen von Kontakt, Druck und Vibration sind Tastsensoren in die Hautschichten eingebettet. Hierzu gehören spezialisierte Sinneszellen sowie vor allem freie Nervenenden.

Detaillierte Betrachtung der Tastsensoren: Die Finesse der freien Nervenenden
Wissenschaftliche Untersuchungen betonen das Vorkommen von freien Nervenenden. Diese ziehen sich oft als komplexes Geflecht aus sensorischen Nervenfasern (myelinisierten und nicht-myelinisierten afferenten Fasern) in die Hautschichten. Dieser Aufbau deutet auf die enorme Empfindlichkeit und Robustheit des Bartel-Tastsinns hin.
Freie Nervenenden sind oft polymodal, das heißt, sie reagieren nicht nur auf mechanische Reize (Druck, Vibration), sondern möglicherweise auch auf Temperaturschwankungen oder unspezifische chemische Reizungen. Diese robusten Allzweck-Kontaktsensoren ermöglichen es dem Wels, schnell einen Alarm auszulösen, sobald die Barteln mit Objekten in Kontakt kommen. Sie sind die Basis für die schnelle, fühlende Lokalisierung und die Reaktion auf unerwartete Berührungen.
3. Neurobiologische Schaltkreise: Die Nervenversorgung (Innervation)
Die Effizienz der Wels-Barteln beruht auf einer hochorganisierten zentralen Verarbeitung der Signale, die von spezifischen Hirnnerven gesteuert wird.

3.A. Die Steuerung der Mechanosensorik: Das Trigeminus-System
Die mechanischen Reize (Berührung, Druck), die über die Barteln aufgenommen werden, werden primär über den Trigeminus-Nerv (Nervus trigeminus – den fünften Hirnnerv) zentral gesteuert und verarbeitet. Dieses System leitet die Tastsinn-Informationen vom Kopf zum Gehirn.
Die Komplexität der Verarbeitung zeigt sich im Aufbau des Trigeminus-Nervenknotens (Ganglion Gasseri), der eine Art räumliche Karte (somatotope Organisation) der sensorischen Eingänge besitzt. Diese spezialisierte Verschaltung ist notwendig, um eine präzise räumliche Ortung und Kartierung der Bartel-Kontakte zu gewährleisten. Nur so kann der Wels die genaue Position eines Objekts oder einer Beute im Nahfeld bestimmen.
3.B. Die Koordination der Chemorezeption: Vagus- und Trigeminus-Interaktion
Die Geschmacksinformationen (gustatorischen Informationen) werden von einem kooperativen System verarbeitet. Die Geschmacksnervenzellen auf den Barteln werden sowohl über das Trigeminus-System als auch über den Vagus-Nerv (N. X) versorgt.
Studien zeigen eine klare funktionelle Trennung: Das Vagus-System steuert die eigentliche Nahrungsaufnahme bzw. das Schlucken (Ingestion). Die Barteln (über Trigeminus und Vagus) lokalisieren die Beute und identifizieren sie chemisch. Die finale Entscheidung über die Nahrungsaufnahme wird aber durch das Vagus-System getroffen.
Diese sensorische Hierarchie ist ein wichtiger Schutzmechanismus: Die Barteln leisten die schnelle, explorative Detektionsarbeit, während die kritische Entscheidung, ob das Material geeignet ist, von einem separaten Vagus-System getroffen wird. Es wurde nachgewiesen, dass es keine direkte zentrale Verbindung zwischen dem Bartel-Geschmackssystem und dem Geschmackssystem im Maulinneren gibt. Diese getrennte Verarbeitung verhindert, dass der Wels, der oft den schlammigen Grund absucht, versehentlich ungeeignete oder schädliche Materialien aufnimmt.
Übersicht: Die sensorischen Funktionen der Wels-Barteln
1. Chemische Wahrnehmung (Geschmack)
Rezeptortyp: Geschmacksknospen / Chemische Sensoren
Nervenanbindung (primär): N. Vagus, N. Trigeminus
Funktion bei der Jagd: Fern- und Nahdetektion gelöster chemischer Spuren (Nahrungsidentifikation und Ortung)
2. Mechanorezeption (Tastsinn)
Rezeptortyp: Freie Nervenenden, Tastsensoren
Nervenanbindung (primär): N. Trigeminus (V. Hirnnerv)
Funktion bei der Jagd: Detektion von Kontakt und Druckveränderungen, Nahbereichs-Scanning des Gewässergrunds und Beutelokalisierung
3. Strömungsdetektion
Rezeptortyp: Mechanosensoren (Barteln & Seitenlinie)
Nervenanbindung (primär): N. Trigeminus, Lateralsystem
Funktion bei der Jagd: Beuteverfolgung durch die Detektion hydrodynamischer Wirbel („Wake-Tracking“)
4. Strömungslehre (Hydrodynamik) der Jagd: Die Kunst der Wirbelspur-Verfolgung (Wake-Tracking)
4.A. Die präzise Waffe: Der Wels als Strömungsdetektor
Wenn sich eine Beute im dunklen oder trüben Wasser bewegt, hinterlässt sie eine Signatur von Wasserwirbeln und Strömungsänderungen, die der Wels perfekt auslesen kann. Das Jagdverhalten von Wels ist optimiert, um diese hydrodynamischen Störungen zu interpretieren. Die Barteln sind in Kombination mit dem Seitenlinienorgan (Lateralsystem) essentiell für die sogenannte Wirbelspur-Verfolgung (Wake-Tracking)-Methode.
4.B. Mechanismus und Effizienz des Wake-Tracking
Wake-Tracking ist die Fähigkeit, die Wasserwirbel und Strömungsstörungen, die eine schwimmende oder fliehende Beute erzeugt, über eine Distanz hinweg präzise zu verfolgen und deren Bewegungsmuster nachzuvollziehen.
Die Effizienz dieses Systems ist bemerkenswert. Experimentelle Studien belegen, dass Welse die Wirbelspuren einer Beute noch mehrere Sekunden später im Wasser nachverfolgen können. Diese zeitliche Genauigkeit (temporale Präzision), selbst in stillem Wasser, zeugt von der außerordentlich hohen Empfindlichkeit der Tastsensoren der Barteln und der schnellen Entschlüsselung (Decodierung) im Gehirn.
Auf neuronaler Ebene wird die Jagdinformation über die zeitliche Abfolge vorhandener oder fehlender Nervensignale (Aktionspotentiale) codiert. Ein Reiz, wie eine Druckwelle, löst eine spezifische Abfolge von Signalen aus. Diese werden entlang der Nervenbahnen zum Gehirn weitergeleitet und dort in die genaue Umweltinformation – die Position, die Geschwindigkeit und die Richtung der Beute – entschlüsselt.

Da der Europäische Wels oft langsam fließende oder auch stehende Gewässer wie Seen bevorzugt , bleiben die hydrodynamischen Signaturen dort länger erhalten. Die Jagdstrategie ist perfekt auf die physikalischen Bedingungen seiner Hauptlebensräume abgestimmt, was seine Rolle als Top-Räuber maximiert.
4.C. Barteln als Nahbereichs-Sensoren
Das Seitenlinienorgan spielt zwar eine Rolle bei der Wahrnehmung von Vibrationen, doch die Barteln übernehmen die Funktion der Nahbereichs-Sensoren (Nahfeld-Detektoren). Nachdem das Lateralsystem die grobe Richtung einer Beute erkannt hat, ermöglichen die flexiblen Barteln die Feinjustierung und das taktile Abtasten in unmittelbarer Nähe des Maules. Sie sind entscheidend für die präzise Lokalisierung und Fixierung der Beute, bevor der finale, kräftige Sog (Saugstoß oder Biss) erfolgt. In den letzten Momenten des Angriffs „fühlen“ die Barteln die Beute in den Wirbelspuren.
5. Die Integration des multisensorischen Bildes: Die nächtliche Strategie
5.A. Der kooperative Jagdprozess
Der Jagderfolg des Welses basiert auf der nahtlosen Integration der Bartelsinne. Der Fisch führt eine Überprüfung mit mehreren Sinnen gleichzeitig (multisensorischer Scan) seiner Umgebung durch, die das ferne Schmecken (chemische Detektion) mit der extrem präzisen Nahfeld-Tastwahrnehmung (Mechanorezeption und Wake-Tracking) verbindet.
Die chemische Wahrnehmung (Chemorezeption) dient der ersten Identifikation: Sie hilft dem Wels, Aas oder die grobe Position lebender Beute über chemische Spuren zu lokalisieren. Die Tastwahrnehmung schließt dann die Lücke, insbesondere wenn die Beute chemische Spuren zu vermeiden sucht. Durch Wake-Tracking kann der Wels auch schnelle, bewegliche Beute verfolgen, die in einem trüben Umfeld unsichtbar ist.
5.B. Die Hypothese der Elektrosensibilität
Neben dem Tasten und Schmecken gibt es wissenschaftliche Hinweise, die darauf hindeuten, dass Welse (Siluriformes) möglicherweise auch die Fähigkeit besitzen, elektrische Felder wahrzunehmen (Elektrosensoren). Bereits 1917 wurde diese Fähigkeit beim nahe verwandten Katzenwels (Ictalurus nebulosus) nachgewiesen.
Obwohl Silurus glanis selbst noch weiter erforscht werden muss, zeigt die Forschung, dass sich Welse erfolgreich auf elektrische Reizpulse trainieren (dressieren) lassen. Dies impliziert, dass die Wahrnehmung schwacher elektrischer Felder, die von allen lebenden Organismen erzeugt werden, vorhanden sein könnte. Sollte der Europäische Wels über Elektrorezeptoren verfügen, würde dies eine zusätzliche, hochspezialisierte Methode zur Detektion von Beute darstellen, die sich still am Grund versteckt.
5.C. Das optimale Zeitfenster der Jagd
Die Bartel-Sinne sind die perfekten Werkzeuge für die Hauptjagdzeit des Welses: die Dämmerung und die Nacht. Die Aktivität ist stark temperaturabhängig, wobei die maximale Aktivität im Frühjahr und Spätherbst erreicht wird. Unter Wassertemperaturen von 4 °C bis 7 °C stellt der Wels die Nahrungsaufnahme ein. Es gibt aber Ausnahmen wie zum Beispiel bei plötzlichem Wasseranstieg. Ich persöhlich habe schon Welse bei 5 °C gefangen.
Die Körperfunktionen (physiologischen Prozesse) unterstützen dieses Temperaturmuster. Die natürliche Aktivität der Nervenzellen (spontane Feuerungsrate) nimmt mit steigender Temperatur zu. Daraus lässt sich ableiten, dass die sensorische Empfindlichkeit und die Verarbeitungsgeschwindigkeit (die Nervenzellaktivität [neuronale Aktivität]) bei höheren Wassertemperaturen – also in den warmen Monaten – optimal funktionieren.
6. Schlussbetrachtung: Die evolutionäre Exzellenz des Welses
Die Barteln des Europäischen Welses sind ein Meisterwerk der Sinnesintegration. Sie sind das primäre evolutionäre Merkmal, das Silurus glanis in die Lage versetzt, seine dominierende Rolle als Top-Räuber in der komplexen, oft dunklen Umgebung verschiedener Gewässer auszufüllen.

Das integrierte System aus chemischer Detektion (Schmecken) zur Identifizierung der Nahrung, Tastwahrnehmung (Tasten) für den Kontakt und hochentwickeltem Wirbelspur-Verfolgung (Wake-Tracking) zur Verfolgung von Bewegung demonstriert eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit.
Der Waller (Silurus glanis) verkörpert die Meisterklasse der non-visuellen Jagd – ein Gigant, dessen Erfolg tief in der neurobiologischen Beschaffung seiner flexiblen Antennen verwurzelt ist und der dadurch die Nacht zu seiner bevorzugten Jagdzeit machen konnte.
Möglicherweise liest er sich etwas langweilig und wissenschaftlich, aber ich bin überzeugt, dass jeder Angler dieses Wissen beim Fischen anwenden kann!
Denken Sie nur an eure Montagen, Köder oder den Wallerholz ...
Euer Vitali Dalke




